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6 Schluß

Der Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Annahme, daß Wilhelm Ostwalds Energetik ein Bindeglied zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften darstellen könnte. Die bisherige Auffassung in der Literatur war die, daß die Energetik als Weltanschauung eine Erscheinung der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts gewesen sei, die vom physikalischen wie vom soziologischen Standpunkt aus überholt bzw. niemals wirklich gültig war. Ich hoffe, auf den vorangegangenen Seiten gezeigt zu haben, daß es sinnvoll sein könnte, die Gedanken Ostwalds nocheinmal aufzunehmen und zu überprüfen, ob sie bei heutigen Fragestellungen nicht doch Antworten liefern könnten. Die Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte zeigen, daß die Frage, die sich auch Wilhelm Ostwald gestellt hat, noch nicht beantwortet wurde, weder positiv noch negativ. Die Frage lautet: Gibt es eine Einheit aller Realität, oder sind zwei oder mehrere Realitäten voneinander unabhängig beschreibbar? Solange diese Frage nicht schlüssig beantwortet ist, ist es legitim, als Arbeitshypothese, im Sinne von Oppenheim und Putnam, anzunehmen, und viele tun das, daß es diese Einheit gibt. Der nächste Schritt müßte dann sein, Annahmen über die Verbindung zwischen den so unvereinbar scheinenden Bereichen der Kultur zu postulieren, um diese dann in einem weiteren Schritt im Vergleich mit der Wirklichkeit auf ihre Brauchbarkeit hin zu überprüfen.

Eine solche Annahme hat Wilhelm Ostwald im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts formuliert, als er die große Reichweite des Energiebegriffes entdeckte. Er nahm an, daß Ordnung und Energie die Grundbegriffe aller Beschreibung von Wirklichkeit sind. Energie liefert die Kräfte, die die Ordnung verändern. Nach dem 2. Haupstatz der Thermodynamik geht diese Veränderung in eine bestimmte Richtung: der Auflösung jeglicher Ordnung hin zum Chaos. Aber bis es zum Chaos kommt gibt es im Strom der Energien Ordnungen, die in der Lage sind, zumindest vorübergehend ihre Komplexität durch die Konzentration von Energie zu vergrößern und zu erhalten. Eine solche komplexe Ordnung scheint das System Erde zu sein, das mit Hilfe der periodisch wechselnden Energieeinstrahlung von der Sonne im Laufe der Jahrmillionen ein planetenweites System aufgebaut hat: das lebende Ökosystem mit all seinen Erscheinungen vom Klima bis zur Geisteswissenschaft. Vielleicht ist es falsch, anzunehmen, daß diese Komplexität aus sich selbst heraus entstanden, sozusagen autopoietisch ist. Denn schon das einfache Gedankenexperiment, daß der Energiestrom der Sonne mit einem mal versiegen würde, zeigt uns, daß dieses System keine Sekunde weiterbestehen würde, geschweige denn sich weiterentwickeln könnte.

Ich möchte zum Abschluß versuchen, die Gedanken, die Wilhelm Ostwald zu denken angefangen hat, mit Hilfe der neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften nocheinmal aufzunehmen. Es soll die Entstehung und die Entwicklung menschlicher Gesellschaften in den Gesamtzusammenhang der von den Naturwissenschaften untersuchten Wirklichkeit eingeordnet werden. Ausgangspunkt sind allein die beiden Begriffe Ordnung und Energie.

Die Ordnung wäre in der galaktischen Situation der Erde zu suchen. Aber nicht in dem Sinne, daß das Ökosystem irgendwo am Sternenhimmel vorgeformt wäre und nur auf der Erde abgebildet werden müßte, sondern in der Regelmäßigkeit der planetaren Bewegungen, die zusammen mit den Zufälligkeiten der Erdkruste und dem riesigen Energiestrom, der von der Sonne kommend, quasi durch die Erde hindurch, in das entropische Chaos des zukünftigen Weltraums hinausströmt. Jede noch so zufällige Unebenheit der Erdoberfläche kommt in einer nicht zu übertreffenden Regelmäßigkeit immer wieder zur gleichen Position bezüglich des Energiestroms der Sonne zurück. Diese Schwingungen und deren unendlich komplexe Interferenzen könnten der Ausgangspunkt des Lebens auf dieser Erde sein. (Dies ist der Aufgabenbereich der Astromomie)

Das Leben hat sich wiederum mit der Hilfe des riesigen Energiestromes zu immer höherer Komplexität hin entwickelt. Dies bedeutet aber nicht, daß das Ende schon vorherbestimmt wäre, da die Vorgänge auf der Oberfläche der Erde quasi zufällig sich verändern und so ständig neue Interferenzen erzeugen. Nach dieser Hypothese wären die lebenden Organismen so etwas, wie Strudel im Strom der Sonnenenergie, der durch das Bachbett des Planeten Erde fließt. (Dies ist der Aufgabenbereich der Geologie)

Das System Leben ist eine Einheit. Vom Virus bis zum Menschen ist alles voneinander abhängig. Und die Biologie hat Grund zur Annahme, daß alle Teile dieses Systems die gleiche Ordnung in sich tragen, die Ordnung der Gene. Diese Gene sind in der Lage, den Energiestrom in der Weise zu nutzen, daß immer wieder die in ihnen gespeicherte Ordnung entsteht. So reproduziert sich diese Ordnung. Die Komplexität der Gene hat sich im Laufe der Evolution so weit gesteigert, daß die aus ihnen entstehenden Organismen in die Lage versetzt wurden zu kommunizieren, und damit den Energiestrom noch besser nutzen zu können. (Das ist der Aufgabenbereich der Biologie)

Die Kommunikation unter den Genen entwickelt sich zum System eigener Ordnung. Diese Ordnung nennen wir Bewußtsein und in der komplexeren Form Selbstbewußtsein. Das Zusammenspiel der Gene in dieser komplexen Form erweitert die Freiheitsgrade der Nutzung des Energiestromes weiter, was scheinbar zu einer Unabhängigkeit von diesem Energiestrom führt. Diese Unabhängigkeit ist aber wirklich nur scheinbar, wie das oben erwähnte Gedankenexperiment sofort zeigt. Die Erhöhung der Komplexität der Kommunikation ermöglicht die Bildung von sozialen Institutionen. (Dies ist der Aufabenbereich der Psychologie)

Die kommunikativen Ordnungen der sozialen Institutionen haben in den vergangenen Jahrzehnten die Größenordnung der gesamten Erde erreicht. Auch auf dieser Komplexitätsebene haben sich, sich selbst reproduzierende Ordnungen aus dem Strom der Energie heraus gebildet. Solche Ordnungen beginnen, sich von dem Planeten Erde zu lösen... (dies ist der Aufgabenbereich der Sozialwissenschaften)

Sicherlich ist mit dieser Skizze lange nicht alles eingeschlossen, womit sich menschliche Kultur befaßt. Die meisten Disziplinen sind gar nicht erwähnt. Aber es ist im Sinn von Ostwald eine Einheit, die die Chance bietet, die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Komplexitätsstufen zu erkennen, aber auch, die Unabhängigkeiten zu beschreiben und einzugrenzen, anstatt die totale Unabhängigkeit ganzer Teile zu postulieren.

Wilhelm Ostwald hat diese Einheit gesehen. Er konnte jedoch die Zusammenhänge noch nicht so klar beleuchten, da das Wissen über die Teilbereiche in den Jahren seither erst so vielfältig wurde, daß die Zusammenhänge nach und nach sichtbar wurden. Er hat, angesichts der einfachen Erkenntnis, daß in der Wirklichkeit innerhalb der Dimensionen von Raum und Zeit nichts anderes zu finden ist, als Ordnung und Energie, die Komplexität der beiden Begriffe weit unterschätzt und deshalb vorschnell Schlüsse gezogen. Diese Schlüsse diskreditierten an vielen Stellen seine Grundgedanken, sodaß diese entweder nicht deutlich erkannt, oder aber falsch interpretiert wurden. Er hat sich vom Geist der Zeit anstecken lassen und gemeint, die Lösung aller Fragen in der Hand zu halten, wo er doch nur die Fragen erkannt hatte. Er hat sich dazu hinreißen lassen die Macht einer (kleinen) Massenbewegung auszukosten und ist mit dieser Bewegung im allgemeinen Chaos des Ersten Weltkriegs untergegangen. Hätte er den Rest seines Lebens mit der Suche nach den Lösungen verbracht, so wie es die Aufgabe jeden Wissenschaftlers ist, dann wären wir vielleicht heute schon ein Stück weiter in der Beantwortung der anfangs gestellten Frage: Gibt es eine Einheit der Wirklichkeit?

An den Schluß meiner Überlegungen möchte ich den Auspruch des theoretischen Quanten-Physikers Friedrich Hund elf Jahre nach Wilhelm Ostwalds Tod stellen:

 „Bei der Fassung der Grundgesetze eines neu erschlossenen Gebietes muß jeder neue Ansatz, jeder Versuch einer begrifflichen Fassung daraufhin geprüft werden, ob er mit dem Energiesatz verträglich ist. Das bedeutet eine starke Einengung der Möglichkeiten, die oft den richtigen Weg weist.“[1]


Literaturhinweise

[1]       Hund (1943), 26