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3              Biographisches

Über den Naturwissenschaftler Wilhelm Ostwald sind schon eine ganze Reihe von ausführlichen Biographien verfaßt worden. Bereits zum ‘25. Jahrestag seiner Doktorpromotion’ veröffentlichte im Jahr 1904 Paul Walden, Wissenschaftshistoriker und Schüler Ostwalds, die erste ausführliche Biographie, die demgemäß bis zu Ostwalds Leipziger Periode reicht. Die erste der beiden Autobiographien erschien 1924 in dem von Raymund Schmidt herausgegebenen Sammelwerk Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, die zweite 1926 und 1927 in den drei Bänden der Lebenslinien. Paul Günther verfaßte jeweils zum Tode 1932 und zum 100. Geburtstag 1953 Zeitschriftenaufsätze biographischen Inhaltes in der Angewandten Chemie. Grete Ostwald veröffentlichte 1953 ihre Erinnerungen an ihren Vater. N.I. Rodnyj und Ju. I. Solowjew brachten 1969 eine umfangreiche Biographie in russischer Sprache heraus, die 1977 in deutscher Übersetzung erschien. K. Schwabe folgte 1979 anläßlich des 125. Geburtstages; Jan-Peter Domschke und Peter Lewandrowski 1982 mit einer ausführlichen Biographie, sowie K. Krause und U. Messow 1983 in etwas kürzerer Form. Hier soll aus diesem umfangreichen biographischen Schrifttum nur stichwortartig auf den Lebenslauf eingegangen werden, um anschließend noch die Entwicklung Ostwalds in bezug auf seine philosophisch-weltanschaulichen Gesichtspunkte zu betrachten.

3.1     Lebenslauf

Wilhelm Ostwald wurde am 2. September 1853 in Riga in Livland geboren.[1] Sein Vater Gottfried hatte als Lehrer in Rußland gearbeitet und sich Ende der vierziger Jahre zusammen mit seiner Frau, einer Bäckerstochter, als Böttcher in Riga niedergelassen. Beide Großeltern kamen aus Deutschland und hatten einen Teil ihres Lebens in Rußland verbracht. Wilhelm las viel in seiner Kindheit und bastelte begeistert in der väterlichen Werkstatt. Er wird beschrieben als lebhaft und rastlos, er war musikalisch, fotografierte, malte und zeichnete gern und er sammelte Schmetterlinge Pflanzen und Käfer. Nach der Volksschule besuchte er das fünfjährige Realgymnasium, wo seine Lieblingsfächer die Mathematik, die Physik, sowie die Naturkunde waren. Er schrieb leidenschaftlich gerne und brachte während der Schulzeit eine handgeschriebene Zeitschrift mit dem Titel Humor heraus. Mit 11 Jahren begann er sich für die Chemie zu interessieren und er entwickelte sich beim Bau von Feuerwerkskörpern zu einem geschickten Experimentator.

Von 1872 bis 1877 studierte er Chemie in Dorpat, dem heutigen Tartu in Estland. Nach Ablegung der Magisterprüfung arbeitete er als Privatdozent und später im Labor seines Lehrers. 1881 erhielt er einen Ruf an den Lehrstuhl für Chemie am Polytechnikum seiner Heimatstadt Riga, wo er die Chemie-Ausbildung neu strukturierte und damit viele Studenten anzog.[2] 1885 erschien der erste Band seines Lehrbuches der allgemeinen Chemie, 1887 der zweite. Er entwickelte eine Reihe physikalisch-chemischer Arbeitsmethoden und bereitete 1886 die Herausgabe einer Zeitschrift für physikalische Chemie vor. 1887 erhielt er von sächsischen Kultusministerium, ohne Wissen des akademischen Rates, den Ruf auf den zweiten Leipziger Lehrstuhl für Chemie, der für ihn vom Institut für physikalische Chemie umgewidmet wurde.[3]

Auf die umfangreichen chemischen Arbeiten Ostwalds während der Leipziger Professur von 1887 bis 1906 soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Das Institut entwickelte sich während dieser Zeit zum wichtigsten seiner Disziplin in Deutschland. Aus seiner Studentenschaft gingen 34 Professoren hervor, darunter mehrere spätere Nobelpreisträger. Er selbst wurde 1909 mit dem Chemie-Nobelpreis geehrt für seine „Arbeiten über Katalyse sowie über chemische Gleichgewichte und Reaktionsgeschwindigkeiten“[4], die er hauptsächlich in den Jahren zwischen 1897 und 1900 verfaßt hatte. 1903 reiste er erstmals auf Einladung des Physiologen Jaques Loeb in die USA nach Berkeley, Kalifornien. 1904 wurde er als Vertreter seines Faches als Redner auf der Weltausstellung 1904 in St Louis, Louisiana ausgewählt. Im Wintersemester 1905/6 ging er als Austauschprofessor nach Harvard. Er reiste mehrfach nach England, wo ihm 1904 in Cambridge die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.

Im Jahr 1900 kam der körperliche Zusammenbruch wegen Überarbeitung. Aus diesem Grund versuchte er eine Einschränkung seiner Lehrverpflichtungen von der Universität zu erhalten, die abgelehnt wurde. Daraufhin reichte er seine Entlassung ein und zog mit seiner Familie in sein Landhaus Energie in Großbothen, 50 km südlich von Leipzig um. Hier widmete er sich bis zum ersten Weltkrieg seinen Studien über Naturphilosophie und Monismus. Nach dem Krieg beschäftigte er sich fast ausschließlich mit der Entwicklung seiner Farbenlehre. Er hatte in Großbothen zu diesen Zwecken eine ansehnliche Bibliothek und ein kleines Labor eingerichtet.

Wilhelm Ostwald starb am 4. April 1932 in einem Krankenhaus in Leipzig nach kurzer Krankheit.

3.2     Philosophisch-weltanschauliche Entwicklung

Wilhelm Ostwald machte in seinem Leben mehrere unterschiedliche Phasen weltanschaulicher Grundeinstellungen durch. Deltete nennt diesen Werdegang eine entwicklungsmäßige Odyssee (developmental odyssey) [5]. Zuerst war er von einer mechanistischen Erklärung überzeugt, dann folgte die physikalische Energetik, danach kam die Anwendung der Energetik auf alle Bereiche der Wissenschaften. Die erste Phase umfaßte die Zeit zwischen seiner Ausbildung in Dorpat bis in die ersten Jahre der Professur in Leipzig, also bis ungefähr 1890. Bis dahin vertrat auch er eine mechanistische Weltanschauung, die er dann im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aufs leidenschaftlichste bekämpfte. Der wissenschaftliche Materialismus besagte, daß die Welt mit Hilfe der Newtonschen Mechanik, die sich ausschließlich auf die Begriffe Masse, Kraft und Bewegung stützte, erklärbar sei. Makroskopisch brachte diese Mechanik unwidersprüchliche Ergebnisse. Das Atom war die kleinste Masseneinheit. Imponderabilien, wie Schall, Licht oder Wärme wurden auf atomare Bewegungen zurückgeführt, wobei jedoch mehr und mehr Widersprüche mit der experimentellen Wirklichkeit entstanden. Einige Physiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts versuchten deshalb neue Erklärungsmodelle zu entwerfen. Auch die heute alles beherrschende Quantenphysik wurde in diesen Jahren von Max Planck, Albert Einstein und anderen entwickelt. Wilhelm Ostwald kam zu einer anderen Ansicht, der Energetik.

Obwohl sich dieser Wechsel schon ab Mitte der achziger Jahre andeutete, sprach er erst in den neunziger Jahren davon, daß Energie die einzige Realität sei. Ein erstes Interesse an der Energie als zentralem Begriff ist Mitte 1887 zu entdecken: „Es ist bekannt, daß alles, was mit Materie in der Welt geschieht nichts anderes ist als die Transformation zwischen zwei ‘Substanzen’; Masse und Energie.“[6] Auch seine Antrittsvorlesung im selben Jahr in Leipzig im selben Jahr trug den Titel Die Energie und ihre Wandlungen. Von dieser Zeit an vertrat er die Ansicht, daß es sich beim Atombegriff um eine überflüssige Hypothese handele, der nur in die Irre führe. Er glaubte, mit Hilfe des Energiebegriffes auch die Masse beschreiben zu können. Atome seien seiner Ansicht nach nicht wahrnehmbar. Die Sinnesorgane reagieren jedoch auf Energieunterschiede zwischen ihnen (den Organen) und der Umgebung, und „wenn alles, was wir von der Außenwelt erfahren, deren Energieverhältnisse sind, welchen Grund haben wir, in eben dieser Außenwelt etwas anzunehmen, wovon wir nie etwas erfahren haben?“[7] Die Entdeckung der Röntgenstrahlung im Jahr 1896 und deren Anwendung in der Molekularanalyse überzeugten Ostwald später von der Vereinbarkeit seiner Energetik mit der Annahme von Atomen als kleinsten Masseneinheiten.

Zunächst dachte Ostwald nicht daran, daß er die Energetik über seinen eigenen Fachbereich der physikalischen Chemie hinaus zur Anwendung bringen würde. „Ich sehe grundsätzlich und unbedingt ab von allen Schlüssen, welche aus diesem Ergebnis für andere, ethische und religiöse, Angelegenheiten gezogen werden können.“[8] Er verneinte auch von Anfang an einen Alleinvertretungsanspruch der Energetik. „Ist Energie, so notwendig und nützlich sie auch zum Verständnis der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck? [...] Ich glaube der Verantwortlichkeit [...] nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich hervorhebe, daß diese Frage mit Nein zu beantworten ist.“[9]

Ab der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg ist eine dritte Phase der Weltanschauung Ostwalds zu beobachten. Nach seinem körperlichen Zusammenbruch und der Erholung beginnt er die Energetik auch auf die Biologie, die Psychologie und die Soziologie auszudehnen. Wieder lehnt er einen Absolutheitsanspruch ab, denn „die Erlangung einer absoluten, d.h. keinem denkbaren Einwände unterworfenen Gewißheit [ist] nicht möglich“[10]. Mit der Übernahme des Vorsitzes im Deutschen Monistenbund tritt diesbezüglich eine zwiespältige Haltung Ostwalds ein. Der Monismus, als ersatzreligiöse Bewegung verlangt einen Absolutheitsanspruch, weil es hier um die Durchsetzung von Glaubenssätzen geht und nicht um die Anwendung wissenschaftlicher Theorien.

„In der Erinnerung an die guten Ergebnisse bei der Durchführung der neuen Lehren in der physikalischen Chemie hoffte ich hier auf gleiche Erfolge und bedachte nicht, daß die Durchsetzung eines neuen Gedankens in der Wissenschaft unverhältnismäßig viel leichter ist, als die einer neuen Weltanschauung bei Laien. [...] Weltanschauungen, [...] insofern sie hypothetisch ergänzt werden, sind ganz vorwiegend Gefühlssache.“[11]

Professionelle Selbstzweifel sind bei einer Durchsetzung von Glaubenssätzen eher hinderlich. So fällt auf, daß die monistischen Schriften Ostwalds sehr dogmatisch klingen, daneben aber weiterhin andere Schriften erscheinen, die zwar dieselbe Naturphilosophie vertreten, das Wort Monismus jedoch an keiner Stelle enthalten. Dennoch fallen sowohl in der Philosophie der Werte von 1913 als auch in der Modernen Naturphilosophie von 1914 jegliche Hinweise auf Zweifel an einem Alleinvertretungsanspruch weg.

Deltete meint, daß sich an diese Phase nach dem Krieg eine weitere Entwicklung der Weltanschauung anschließt. „The years between the First World War and the mid 1920s are marked by Ostwald’s attempt to formulate grandiose social and political theories based on the principles of energetics. But that effort, while interesting in its own right, bears little ressemblance to the scientific theory of energetics he had proposed two decades earlier.“[12] Hier scheint Deltete die Biografie Ostwalds nicht sehr genau studiert zu haben. Die Ausweitung der Energetik auf die Biologie, Psychologie und die Kulturwissenschaft, sowie die Annahme einer Pyramide der Wissenschaften, ging nach Ostwalds eigenen Angaben auf die Jahre zwischen 1901 und der zweiten Amerikareise 1904 zurück, auf der er Ferdinand Tönnies persönlich kennengelernt hatte. Bald darauf las er auch den Cours de Philosophie Positive von Auguste Comte, dessen Biographie er 1914 veröffentlichte. Die Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft kamen 1909 heraus, so daß kein Grund vorliegt, die Phase der soziologischen und politischen Theorien nach dem Krieg anzunehmen. Im Gegenteil, nach 1918 taucht in der von Rodnyj und Solowjew erstellten Bibliographie nur noch eine Schrift zu diesem Thema auf, Die Pyramide der Wissenschaften von 1929.

Dagegen kann ab 1915 sehr wohl eine neue Phase im Schaffen Wilhelm Ostwalds beobachtet werden: Die Farbenlehre. Der Krieg hatte eine ganze Reihe von seinen Anstrengungen in Bezug auf eine Internationalisierung zunichte gemacht: die Entwicklung einer Weltsprache, seine Arbeit im Monistenbund (der internationalisiert werden sollte), die Ansätze eines internationalen Verbandes der Chemiker und den Arbeiten zur allgemeinen Normierung und Standardisierung. Ostwalds ehedem pazifistische Auffassung, daß Krieg, wegen seiner Energievergeudung in jedem Fall als politisches Mittel abzulehnen sei, ging zu Bruch mit der festen Überzeugung, daß Deutschland schuldlos in den Krieg hineingezogen worden war, und daß dies einen Versuch der Vernichtung der deutschen Kultur dargestellte, den es abzuwehren galt. Im Rückblick auf die Vorkriegsjahre bemerkte er resigniert,

„daß alle diese mühevoll und zum Teil schon mit Erfolg angebauten Felder durch den Krieg sofort überschwemmt und zerrissen wurden. Und ich mußte mir sagen, daß sie auch nach dem Kriege so verschlammt sein würden, daß es vieler Jahre bedürfen würde, bis sie wieder in Pflege genommen werden konnten.“[13]

Angesichts seines Alters von über 60 Jahren schloß er die bis dahin getane Arbeit ab. Er hatte seine Mithilfe in der Rüstungsproduktion angeboten, wo er für die Salpeterherstellung für Sprengstoff reiche Kenntnisse zu Verfügung gehabt hätte, aber diese Mithilfe wurde vom Reich verschmäht, womöglich, weil er durch seine ungewollte Nähe zum Sozialismus, aufgrund seiner materialistischen Ideen von Gesellschaft, nicht sehr vertrauenswürdig erschien. Aus diesen Gründen richtete er sich, nach 8 Jahren Abstinenz von chemischer Labortätigkeit, während des Krieges in seinem Landhaus ein kleines Labor ein, in dem er seine chemischen Kenntnisse mit seinen musischen Neigungen verband und sich der Ordnung der Farbenlehre widmete[14]. Er selbst „betrachtete die Farbforschung als die bedeutendste Leistung seines langen wissenschaftlichen Weges“[15]


Literaturhinweise

[1]       zur Kindheit vgl. Rodnyj, Solowjew (1977), 11ff.

[2]       vgl. a.a.O., 30f.

[3]       vgl. a.a.O. 37ff, bes. Anm. 1, 39; LL II, 17

[4]       Neufeldt (1987), 364

[5]       Deltete (1983), 258

[6]       Ostwald (1887): Aufgaben der physikalischen Chemie, 9f. zit. nach Deltete (1983)

[7]       Überwindung, 234

[8]       a.a.O., 221f.

[9]       a.a.O., 239f.

[10]      VNP, 10

[11]      LL III, 246

[12]      Deltete (1983), 258

[13]      LL III, 351

[14]      Dieses Labor wurde von der feindlichen Aufklärung im Krieg mißtrauisch beobachtet, Ostwald bestreitet jedoch jegliche Arbeit an kriegsbezogeneer Forschung. LL III, 343f.