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2 Relevante wissenschaftliche Strömungen zur Zeit Wilhelm Ostwalds

Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch herrschte in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft eine unbändige Aufbruchstimmung. Trotz der starken Reaktion der konservativen Kräfte in Wien und Berlin auf die revolutionären Bewegungen des Bürgertums bis zur Mitte des Jahrhunderts und später der Arbeiter war dieser optimistische Fortschrittsglaube nicht zu unterdrücken. Die Gesellschaft in Mitteleuropa formierte sich nach und nach neu und erhielt die mächtige nationalstaatliche Struktur, die erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Zeichen der europäischen Einigung wieder diskutiert werden sollte.

„Wenn man bedenkt, daß nicht nur das nationalsozialistische Dritte Reich, sondern auch die Weichenstellungen in den beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg noch für Jahrzehnte von Männern bestimmt wurden, die das Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg bereits als junge Erwachsene erlebt hatten und von ihm geprägt worden sind, dann stellt sich in ganz besonderer Weise die Frage nach der Kontinuität der deutschen Geschichte“[1]. Aber nicht nur die Menschen, wie Jürgen Reulecke meint, sondern ganz besonders auch die Institutionen aus der Zeit des Kaiserreiches haben die großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts überstanden. Beispielhaft sollen hier nur das Bürgerliche Gesetzbuch, das Berufs-Beamtentum oder das Sozialversicherungssystem aber auch die Parteien erwähnt werden. Auch die Grundstrukturen der Telekommunikations- und der Verkehrsnetze stammen aus der Zeit, in der Wilhelm Ostwald lebte und wirkte, genau so, wie die Strukturen der Wirtschaft und des Handels, die Konzerne der Stahl- und der Chemieindustrie oder die Banken und Versicherungen auf der einen Seite und die Gewerkschaften auf der anderen. Die Städte wuchsen in der Folge der Industrialisierung auf ein Vielfaches der Größe im 18. Jahrhundert an, die architektonischen Zeugnisse der Gründerzeit lassen vielerorts bis heute den großen Optimismus spüren, mit dem sie geplant und gebaut worden sind. Auch die Mehrzahl der kulturtreibenden und Sport-Vereine haben ihr Gründungsdatum im 19. Jahrhundert. Die Frauen fanden - noch zaghaft - zu eigenem Selbstbewußtsein.

Dieses Gefühl, jahrzehntelangen Fortschritt vor sich zu haben, ist spürbar in den Schriften von Wilhelm Ostwald. Selbstbewußt gründete er zusammen mit anderen Forschern die naturwissenschaftliche Disziplin der physikalischen Chemie und baute sie international aus. Nicht nur innerhalb der Chemikergemeinschaft organisierte er übergreifende Strukturen der Kommunikation (wiss. Zeitschriften und Verbände) und der Normung. Er betrieb die Entwicklung einer künstlichen Weltsprache ebenso, wie die Ordnung der kulturellen Leistungen in einem einheitlichen System.

2.1     Naturwissenschaft

Nachdem im 17. und 18. Jahrhundert die Physik zu Ruhm und Erfolg gekommen war, konnten seit dem späten 18. Jahrhundert auf dieser Grundlage die Naturforscher das Wissen neu strukturieren. Namen wie Goethe, Humboldt, Lavoisier oder Linné zeugen von dieser Zeit der Neuordnung des Wissens über die Natur, auf deren Grundlage die naturwissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts erst möglich wurden. Die experimentelle Bestätigung dieser Theorien brachte in der Folge die bis dahin hauptsächlich begrifflich-theologisch fundierte Weltdeutung in einem ähnlichen Ausmaß ins Wanken, wie die Erkenntnisse der Astronomie eines Galilei oder Kepler 300 Jahre zuvor.

2.1.1     Chemie

Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde das alte geheimwissenschaftliche, alchemistische Wissen nach und nach von seinen mystischen Komponenten befreit und neu geordnet. Lavoisier (1743-1794) ist es unter anderem zu verdanken, daß eine einheitliche Nomenklatur in der Chemie entwickelt wurde. Er quantifizierte die chemische Methode durch die Einführung der Waage. Lavoisier, Scheele und Priestley deuteten daraufhin erstmals die Verbrennung als Reaktion eines Stoffes mit dem Sauerstoff der Luft, nachdem man bis dahin geglaubt hatte, es handele sich um das Entweichen eines imaginären Stoffes, des Phlogistons. Erste technologische Verbesserungen auf dieser Grundlage, z.B. der Schießpulverherstellung, verhalfen dieser Wissenschaft zu wachsendem Ansehen. Die neuen Erkenntnisse der Oxidation brachten der Metallurgie neue Erfolge und ermöglichten die Entwicklung des Stahls, der zum Baumaterial der industriellen Revolution wurde. Justus von Liebig verbesserte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit seiner Agrikulturchemie die künstliche Düngung, und brachte damit der Landwirtschaft eine starke Steigerung ihrer Erträge.

Als es Friedrich Wöhler (1800-1882) 1828 erstmals gelang, einen organischen Stoff, den Harnstoff, aus anorganischem Ausgangsmaterial herzustellen, war der Beweis erbracht, daß zur Darstellung organischer Verbindungen keine metaphysische Kraft (vis vitalis) notwendig war.

Die Einführung weiterer physikalischer Methoden in die Chemie, die u.a. Wilhelm Ostwald seit den 1870er Jahren systematisch betrieb, führte zur rasanten Ausweitung theoretischer Kenntnisse chemischer Vorgänge. In kürzester Zeit konnten unzählige Fragen beantwortet und Rätsel gelöst werden, was zu der vermeintlichen Gewißheit führte, daß mit Hilfe dieser (naturwissenschaftlichen) Methoden alle Fragen beantwortet und die Welt restlos gedeutet werden könnten.

2.1.2     Biologie und Medizin

Der erste, der mit Erfolg versucht hat in die anscheinend unübersehbare Fülle der Lebensformen Ordnung und System zu bringen, war der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778). Er ging in seiner Systema naturae von 1735 davon aus, daß alle diese Formen seit der Erschaffung der Welt vorhanden waren: „Tot sunt genera et species, quot ab initio creatae sunt“[2]. Dieser Grundsatz wurde jedoch bald durch paläontologische Forschungen in Zweifel gezogen. Das Aussterben der Arten wurde in der Folge durch verschiedene Katastrophentheorien erklärt, bis Charles Darwin (1809-1882) 1859 sein Werk On the origin of species by means of natural selection herausbrachte und die Theorie der Evolution entwickelt werden konnte.

„Einer der ersten, die Darwins Entwicklungslehre annahmen[,...] war Ernst Haeckel[3]. Der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) verfaßte 1868 seine Natürliche Schöpfungsgeschichte und erntete dafür, ähnlich wie Darwin, nicht viel Anerkennung. Im Gegenteil, Theologen und religiöse Schriftsteller im konservativen kaiserlichen Deutschland kamen in große Bedrängnis und griffen die Theorie der Abstammung des Menschen aus dem Tierreich, aber auch Haeckel und Darwin persönlich aufs Schärfste an. Einen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen, als Haeckel 1899 seine Welträtsel herausbrachte, in denen er nicht nur die Darwinschen Lehren, sondern auch deren Unvereinbarkeit mit dem christlichen Dogma in allgemein verständlicher Sprache propagierte. Dieses Buch fand sehr weite Verbreitung, es wurde allein bis 1918 24 mal in andere Sprachen übersetzt und von den drei deutschen Originalausgaben waren bis dahin 340000 Exemplare gedruckt[4]. Erst Theologen der 30er Jahre, wie Karl Barth und Rudolf Bultmann ermöglichten wieder die Vereinbarkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit christlichem Glauben.

Diese Auseinandersetzungen wurden aber nicht nur zwischen den Naturwissenschaftlern und den Theologen geführt, sondern sie ergriffen weite Teile der Bevölkerung. Der allgemeine Glaube an die Genesis kam endgültig ins Wanken und in diesem Klima der Verunsicherung sprossen allenthalben neue Systeme der Weltanschauung hervor, von denen der naturwissenschaftliche Monismus Ernst Haeckels nur ein Beispiel darstellt.

Auch die Medizin hatte sich im 19. Jahrhundert rasant entwickelt. Beobachtung und Experiment hielten zu Beginn des Jahrhunderts in die sie Einzug. Die Kenntnisse der Anatomie wurden durch systematisches Sezieren verbessert, die Physiologie erhielt großen Auftrieb durch die Einführung physikalischer und chemischer Untersuchungsmethoden. Krankheiten wurden nicht länger als parasitäre Wesen betrachtet, sondern in pathologisch veränderten Strukturen des Körpers gesucht. Die Chirurgie konnte nach der Entdeckung der narkotisierenden Wirkung verschiedener Gase (Äther, Chloroform) in den vierziger Jahren, größere und kompliziertere Eingriffe wagen. Allerdings waren diese Eingriffe wegen der sehr häufig auftretenden Wundinfektionen äußerst gefährlich. Dies änderte sich dann in den siebziger Jahren, als durch die Forschungen Louis Pasteurs oder Robert Kochs diese Infektionen als Befall durch Mikroorganismen erkannt wurden und mit Hilfe von Asepsis und Antisepsis zurückgedrängt werden konnten. „Wer immer am Ende des 19. Jahrhunderts auf dessen Anfang zurückblickte, der stieß von selbst darauf: Erst der Einsatz und die Erfindung von Technik hatte den Hunger überwunden - Stichwort Thaer; die Seuchen ihres apokalyptischen Schreckens entkleidet- Stichwort Robert Koch“[5]

Auch in der Humangenetik gelang der Durchbruch um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert als die ‘Mendelgesetze’ wiederentdeckt wurden. Gregor Mendel (1822-1884) hatte schon im Jahr 1865 in Kreuzungsversuchen an Pflanzen nachgewiesen, daß die Verteilung der Erbfaktoren gesetzmäßig erfolgt. In der Humangenetik sah man nun die große Chance, Erbkrankheiten bekämpfen und verhüten zu können.

Auch in der Psychologie und Psychiatrie beschritt man in diesen Jahren neue erfolgversprechende Wege. Wilhelm Ostwalds Freund und Kollege in Leipzig Wilhelm Wundt hatte mit der Gründung der physiologischen Psychologie naturwissenschaftliche Methoden auch in diesen Bereich der Wissenschaft eingeführt, der bis dahin ganz von der Philosophie vereinnahmt gewesen war. Das Gehirn und seine Teile wurden als Sitz der Psyche angesehen und Geisteskrankheiten als pathologische Veränderungen dieses Organs behandelt. Die moderne Neurophysiologie fand ihren Ursprung in unmittelbarer Umgebung von Wilhelm Ostwald.

Die heutige moderne Medizin hat mit all ihren Erfolgen in der Bekämpfung vieler Krankheiten und in der Steigerung der allgemeinen Lebenserwartung der Menschen ihren Anfang in genau dieser Zeit, die Wilhelm Ostwalds Hauptschaffensphase war. Diesen Anfang „verdankt sie dem Durchbruch des naturwissenschaftlichen Denkens seit dem 19. Jahrhundert und seinen Folgeerscheinungen, der Spezialisierung und der Organisation“[6].

2.2     Geisteswissenschaft

Im Gegensatz zur euphorischen Grundstimmung, die unter den Naturforschern und Ingenieuren im deutschen Kaiserreich herrschte, war unter den Geisteswissenschaftlern eine Furcht vor allzu schnellem Fortschritt, vor einem Niedergang von Ethik und Philosophie zu spüren. Es scheint so, als hätten die großen naturwissenschaftlichen Erfolge der vorangegangenen Jahrzehnte eine gewisse Nervosität unter den Philosophen, Theologen und Philologen gestiftet. Ganze Domänen früherer Arbeitsgebiete drohten an die Naturforscher verloren zu gehen, oder waren es bereits. Beispielsweise war die Psychologie bis ins 19. Jahrhundert hinein unangefochten das Ressort der Philosophie. Mit der Psychophysik Wilhelm Wundts jedoch wurde die Psyche plötzlich ‘anatomisch’ erforschbar als Funktionen von Regionen des Gehirns.

Spätestens seit Auguste Comte (1798-1857) etablierte sich die Soziologie als eigenständige ‘positive’ Wissenschaftsdisziplin und machte der Staatsphilosophie Konkurrenz. Die Frage war für Comte nicht mehr, welche die erste Ursache des Staates war, wie beispielsweise bei Rousseau der Staatsvertrag, sondern welche allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Welt sich aus der Beobachtung der Phänomene ergaben: „Wir geben es auf, den Ursprung und die Bestimmung des Weltalls zu ermitteln und die inneren Ursachen der Erscheinungen zu erkennen. Statt dessen suchen wir deren Gesetze durch gemeinsamen Gebrauch der Vernunft und der Beobachtung zu entdecken, d.h. deren Beziehungen im Nacheinander und der Ähnlichkeit nach. Die Erklärung der Tatsachen besteht nur noch darin, daß man die einzelnen Erscheinungen in Beziehung setzt zu allgemeinen Tatsachen, deren Zahl der Fortschritt der Wissenschaft stetig zu vermindern strebt“[7] schreibt Comte in seiner Cours de Philosophie Positive (1830-1842), in der er in der Folge die Notwendigkeit einer eigenständigen positiven Wissenschaft der sozialen Erscheinungen entwickelt, der er den Namen Soziologie gibt. Mit der akademischen Etablierung der Soziologie durch Emile Durkheim (1858-1917), durch seinen Lehrstuhl für Sozialwissenschaft und Pädagogik an der Universität in Bordeaux 1887, war dieser Bereich endgültig dem Kern der Philosophie entzogen.

Mit der zunehmenden Positivierung verschiedener Wissenschaftszweige verstärkte sich aber auch die Tendenz in der Schulphilosophie, den Idealismus gegen diese Gefahren zu verteidigen. Dies geschah gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend nervös, polemisch und aggressiv. Beispielhaft seien hier nur die Auseinandersetzungen genannt, die als Methodenstreit um den Historiker Karl Lamprecht in die Geschichte eingegangen sind.

2.2.1     Geschichtswissenschaften

Die deutsche Geschichtswissenschaft um 1890 war geprägt von Leopold von Ranke (1795-1886). Seiner Auffassung nach war die angemessene Vorgehensweise historische Wahrheit zu finden, die, sich in die primären Quellen zu vertiefen, diese zu interpretieren und durch einfühlsame Intuition zu verstehen. Bei aller postulierter  Voraussetzungslosigkeit, Objektivität und Freiheit von Vorurteilen, hatte man doch einige allgemein geteilte Grundannahmen. Zum einen ging man davon aus, daß die Antriebskräfte der Geschichte die Ideen waren, die den Akteuren die Ziele vorgaben. Zum anderen war der höchste vorstellbare Akteur immer der Staat, nicht die Gesellschaft als solche. Folglich richtete sich historische Forschung hauptsächlich auf die politischen Vorgänge zwischen den staatlichen Organen aus. Der Primat des Staates bedeutete aber, daß sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse am Deutschen Reich, als Ziel der historischen Entwicklung, gemessen werden mußten. Demokratische Reformbestrebungen waren unter diesen Voraussetzungen staatszersetzend und konnten nicht ‘einfühlend’ als Bedürfnis der Bevölkerung, sondern nur als von außen kommendes Übel für den Staat gedeutet werden. Akteure waren Kaiser, Kanzler, Minister und Generäle, nicht Arbeiter, Soldaten und Bauern. Diese Akteure hatten die volle moralische Handlungsfreiheit, Gesetze waren Objekte ihrer Handlungen, nicht Voraussetzungen. Es ging der Geschichtswissenschaft um „Singularitäten, Unterschiede und Individualität und gerade nicht um abstrakte Systeme von Gesetzen, Normen oder anderen Konzepten, die eine Einschränkung der Handlungsfreiheit der historischen Persönlichkeiten beinhalteten“[8]. Eine Kulturgeschichte, die nicht den Ablauf der politischen Verwicklungen und Entscheidungen zum Inhalt hatte, sondern sich der gesamtgesellschaftlichen Phänomene, wie Wirtschaft oder Bevölkerungsstruktur widmete, hatte für die Neo-Rankeaner keinen Sinn.

Einer der ersten, der sozialwissenschaftliche, also ‘positive’ Methoden in die Geschichtswissenschaft in Deutschland einführen wollte, war Karl Lamprecht. Er hatte sich in seiner Deutschen Geschichte (die ersten 5 Bände: 1890-1895) die Aufgabe gestellt, “die materielle Kultur in ihrer Gesamtheit als Ziel der historischen Forschung zu erfassen, soweit sich diese Forschung überhaupt den realen Dingen im Gegensatz zur Erforschung der idealen Entwicklungsfaktoren des Glaubens, der Wissenschaft und der Kunst besonders zuwendet“[9]. Lamprecht wandte sich gegen eine absolute Trennung der Methoden der Naturwissenschaften und der Geschichte, verbunden mit der Überbetonung der Rolle historischer Persönlichkeiten und der absoluten Willensfreiheit. Damit stieß er auf heftigsten Widerstand seitens seiner Fachkollegen. Es entwickelte sich eine fachliche und persönliche Auseinandersetzung, der Methodenstreit, in deren Folge Lamprecht letztlich isoliert dastand und grundlegende Zugeständnisse machen mußte, um akademisch überleben zu können. Sein Werk geriet über Jahrzehnte in Vergessenheit, nachdem es „im Methodenstreit der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit dem Verdikt der Fehlerhaftigkeit, Unsolidität und der Nähe zu Materialismus und westeuropäischem Positivismus belegt“[10] worden war.

Karl Lamprecht war zu dieser Zeit Professor an der Leipziger Universität und mit Wilhelm Ostwald und Wilhelm Wundt in freundschaftlichem Austausch. Sie trafen sich mit anderen einmal wöchentlich nach dem Abendessen zu einem sogenannten Kaffeekränzchen. Obwohl sicherlich keine theoretische oder methodologische Einigkeit zwischen dem Historiker, dem Physikochemiker und dem Psychologen bestehen konnte, ist doch eine gegenseitige Beeinflussung anzunehmen. „Wie oft wir uns auch sahen,“ schreibt Ostwald über Lamprecht, „wir waren niemals gleicher Ansicht und gerieten sofort in Streit. Doch führte dieser Streit niemals zu persönlicher Verstimmung, sondern machte uns beiden ein großes Vergnügen. Er sah von der traditionellen Höhe seiner Geisteswissenschaft ein wenig auf den Naturforscher herab und ich hielt mit dem Spott nicht zurück, wenn er mir methodische Entdeckungen für seine Wissenschaft darlegte und rühmte, die wir uns schon an den Schuhen abgelaufen hatten.“[11] Wenn Ostwald die Geschichtswissenschaft als inhaltliche Wissenschaft nicht anerkennen wollte, dann mußte das Erlebnis des Methodenstreits in seinem unmittelbaren Umfeld, bei dem es ja gerade um die mißglückte Einführung neuer, an die Naturwissenschaften angelehnten Methoden ging, diese Ablehnung noch verstärken. Geschichte war für Ostwald nur die Technik, „wie man irgendwelche vergangene Verhältnisse, die man wissen möchte, aus den Überresten erschließt“. Und er fährt fort: „Um den Inhalt dieser Verhältnisse zu beurteilen, sind aber Sonderkenntnisse des betreffenden Faches erforderlich, die der Historiker nicht hat und nicht haben kann.“[12] Lamprecht war, wie Hans Schleier darstellt und aus der oben zitierten Darstellung Ostwalds hervorgeht, ein durch und durch konservativer Akademiker, aber sein Ansatz der Kulturgeschichte rückte ihn gefährlich in die Nähe von marxistisch-sozialistischer Weltanschauung. Was das für einen Staatsbeamten in Zeiten des ‘Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie’ (Sozialistengesetz) von 1878 bedeuten konnte, ist leicht auszudenken. Dieses Gesetz war bis 1890 in Kraft, aber auch die nicht erfolgte Verlängerung verhinderte nicht, daß die Verketzerung als ‘Reichsfeind’der Sozialdemokratie und allem, was damit zusammenhing, weiterwirkte. Schon der Verdacht materialistischer politischer Ideen konnte im Kaiserreich das Ende einer geisteswissenschaftlichen Karriere bedeuten.

Es kann im Nachhinein nicht mehr eindeutig geklärt werden, ob Lamprecht in der Folge des westeuropäischen Positivismus, oder unabhängig davon oder gar als Vorreiter die methodische Erweiterung der Geschichtswissenschaft propagierte. Fest steht, daß ungefähr gleichzeitig in anderen Ländern ähnliche Ideen einer Sozialgeschichte aufkamen, und dort eher mit Erfolg beschieden waren als in Deutschland. Hans Schleier schreibt darüber: „Paul Lacombe, Henri Berr und François Simiand suchten in Frankreich mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen nach einer synthèse historique; die revolutionierenden Aufgaben einer Sozialgeschichte erörterte die ‘New History’ in den USA, an der Spitze Charles A. Beard und James H. Robinson; ähnliche Fragen stellten John B Bury in England, die Wirtschaftshistoriker Henri Pirenne und Petrus Johan Blok in Belgien und Holland, Haldvan Koht in Norwegen, der Italiener Gino Luzzato, der Schweizer Eduard Fueter; eine moderne Kulturgeschichte forderte der Österreicher Friedrich Jodl; in Wien gründeten Ludo Moritz Hartmann und Carl Grünberg 1893 die ‘Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte’ - um nur diese Namen unter zahlreichen anderen zu nennen.“[13]

In der deutschen Geschichtswissenschaft setzten sich damals die konservativen Kräfte durch, und eine Wiederaufnahme der Ideen von Lamprecht geschah nicht vor den sechziger Jahren, sowohl in der DDR wie auch in der Bundesrepublik.

Die Geschichtswissenschaft und die Soziologie hatten sich schon von den Anfängen der Soziologie an voneinander distanziert. Während die Historiker die Soziologie als Pseudowissenschaft abqualifizierten, die „den Menschen mit Methoden, die sich nur für das Studium der Natur eignen“[14] betrachtete, sprach die andere Seite von den „bedeutungslosen Details, die in so kindischer Weise von der geistlosen Neugier blinder Kompilatoren steriler Anekdoten gesammelt“[15] würden. Bis zu Ostwalds Zeit und auch Jahrzehnte nach ihm, hatte eine Comtesche Sozialwissenschaft in der deutschen Geschichtswissenschaft so gut wie keinen Anklang gefunden. Die Soziologie etablierte sich zu dieser Zeit u. a. mit Emile Durkheim und Max Weber ebenfalls eher in einer idealistischen als einer positivistischen Weise.

2.2.2     Philosophie, Naturphilosophie

Es kann an dieser Stelle nicht die Aufgabe sein, den Stand der Schulphilosophie um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, also der Zeit, in der Ostwalds Ideen der Energetik entstanden, in aller Ausführlichkeit auszubreiten. Aber die Energetik versteht sich als philosophisches System und wird auch von der zeitgenössischen Schulphilosophie als solches wahrgenommen, also ist es zumindest erforderlich den Bereich der Naturphilosophie ein wenig zu beleuchten.

Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kant der Aufklärung einen krönenden Abschluß gegeben hatte, entstand in Deutschland unter Dichtern, Künstlern und ‘genialischen’ Menschen, weniger unter den Berufsphilosophen, die Strömung der Romantik. Goethe, obwohl ein Verehrer Kants, sah in „der Welt und der Natur Materie und Geist im Sinne Spinozas als zwei Seiten einer einheitlichen, ewigen Gottnatur [...], welche im Menschen zum Bewußtsein ihrer selbst kommt,“[16] und nicht den Dualismus von ‘Ding an sich’ und ‘Erscheinung’. Nicht nur Ostwald zitiert Goethe und Schiller, die monistischen Schriften sind voll davon. Zwischen der Romantik und der neueren Naturphilosophie liegen die zwei großen Strömungen des 19. Jahrhunderts, die auf die beiden Seiten der Kantschen Philosophie zurückgehen: Der Idealismus, mit Fichte, Schelling und Hegel als seinen Hauptvertretern, knüpft an den Begriff des Bewußtseins, des schöpferischen Ichs mit seiner (Willens-)Freiheit an, die sich in der Geschichte verwirklicht. Auf der anderen Seite entstand, durch die stärkere Gewichtung der Welt der Erscheinungen, in Frankreich (Comte) und im angelsächsischen Bereich (Bentham, Mill, Spencer) der Positivismus und in Deutschland der Materialismus von Feuerbach und Marx. Der Monismus des ausgehenden Jahrhunderts bezieht sich hauptsächlich auf den westeuropäischen Positivismus, weniger auf den deutschen Materialismus, zumal Feuerbach und Marx wenig Anknüpfungspunkte für die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme der Naturwissenschaftler boten.

Insgesamt kann für die in Frage stehende Zeit keine einheitliche Ideologie angegeben werden. „Zweifellos ist der Neukantianismus eine geistige Erscheinung des Wilhelminischen Kaiserreichs. Er stieg im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, sich zugleich vielfach facettierend, zur führenden Richtung der deutschen Universitätsphilosophie auf.“[17] Die philosophische Debatte war breiter, an ihr beteiligten sich sowohl Philosophen, als auch Vertreter des ganzen Spektrums der Wissenschaften von der Mathematik über Physik und Biologie bis zu Geschichte, Psychologie und Soziologie. Es ging um die Theorie des Wissens, und durch die vorangegangenen starken Verschiebungen zwischen Glauben und naturwissenschaftlicher Erkenntnis, auch um weltanschauliche Motive. Mit der Verbreitung von Darwins Theorie der Evolution war ein allgemeiner Glaube an die wortgetreue Wahrheit der biblischen Genesis zumindest stark angeschlagen, nach der Ansicht vieler sogar unmöglich geworden. In die entstandene Lücke der Weltsicht stießen aus allen Richtungen neue Entwürfe hinein. Haeckels materialistischer Monismus und Ostwalds Energetik sind hierfür nur zwei Beispiele, der Marxismus gehört ebenso hierher, wie die Anthroposophie von Rudolf Steiner.

 „Die deutsche Naturphilosophie, wir sehen auf sie zurück wie auf einen abgestorbenen Baum, der das schönste Laub, die prächtigsten Blüthen, aber keine Früchte trug. Mit einem unendlichen Aufwand von Geist und Scharfsinn schuf man nur Bilder, aber auch die glänzendsten Farben sind, wie Goethe in seiner Farbenlehre behauptete, nur getrübtes Licht. Wir aber wollen und suchen das reine Licht und dies ist die Wahrheit.“[18] Mit solchen und ähnlichen Sätzen wurde die Naturphilosophie, wie sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden hatte, diskreditiert. Gemeint war damit der naturphilosophische Ansatz von Schelling, der auf der Grundlage spinozistischer Gedanken von einer ‘absoluten Urkraft’ sprach, die sich, in unterschiedlichen Quantitäten, aus dem Objektiven, Realen und dem Subjektiven, Idealen zusammensetzen sollte. Die Naturforscher verließen sich also nicht mehr auf ‘Disputierkunst’, sondern auf die Empirie, die Beobachtung der Natur. Die starke Stellung der Philosophie verhinderte aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine rasche Etablierung der empirischen Naturwissenschaften in den Universitäten. Dies führte dazu, daß der Begriff der Naturphilosophie unter den Naturforschern geächtet wurde. „Der Name Naturphilosophie [...] besitzt einen üblen Klang“[19] beginnt Ostwald im Jahr 1900 seine Vorlesungen über Naturphilosophie. „So ist denn“ fährt er fort, „die Zeit der Naturphilosophie als eine Zeit des tiefen Niederganges deutscher Naturwissenschaft bekannt, und es erscheint als ein vermessenes Unternehmen für einen Naturforscher des zwanzigsten Jahrhunderts, unter dieser verrufenen Flagge segeln zu wollen.“[20] Aber das Unternehmen glückte und der Name der Naturphilosophie wurde mit neuem, positivistischem Inhalt gefüllt und rehabilitiert. In der Folge wurde wieder auf breiter Front über Naturphilosophie diskutiert. Das ganze 19. Jahrhundert glaubte sich die Naturwissenschaft ‘befreit von jeder Philosophie’. Metaphysik, wie man die Naturphilosophie abschätzend bezeichnete, hatte keinen Platz mehr in der Erkenntnistheorie. Man war sich sicher, daß die Newtonsche Mechanik alle Rätsel der Welt lösen könne und stritt allenfalls über Details. Nachdem Ostwald seine Vorlesungen über Naturphilosophie verbreitet hatte, begann jedoch wieder eine Diskussion, an der sich nicht nur die Naturforscher beteiligten, sondern mehr und mehr auch wieder die Berufsphilosophen, die sich aufgrund der neuen Aussagen und Ideen zu Stellungnahmen herausgefordert fühlten, obgleich einige Berufsphilosophen Ostwalds Eindringen in die Geisteswissenschaften als unlauteren Wettbewerb bezeichnet und es als in hohem Maße unkollegial und verwerflich verurteilt hatten.

Der Philosoph J. Classen faßte 1908 die verschiedenen Strömungen zusammen, die zu dieser Zeit als Naturphilosophie behandelt werden konnten. Er führte dabei alle diese Denksysteme, ganz im Zeichen des Neukantianismus, auf die Erkenntniskritik Kants zurück. Als wichtigste Vertreter einer Naturphilosophie nannte Classen Du Bois-Reymond, F.A. Lange, Ernst Haeckel, Ostwald und Ernst Mach. Allen sprach er jedoch den Alleinvertretungsanspruch für die Deutung und die Erklärung der Welt ab. Die moderne Physik brauchte nach wie vor keine Philosophen, um ihre mathematischen Gleichungssysteme zu berechnen. Die biologischen Wissenschaften zeigten zwar allenthalben physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten aber „zu einer einheitlichen Wissenschaft wird die Kunde von den lebenden Wesen erst dadurch, daß sie Begriffe in ihre Betrachtungen mit aufnimmt, durch welche sie den Bereich der Physik überschreitet, Begriffe, mit denen die Physik in gleicher Weise nicht rechnen kann und darf“[21].

Der wissenschaftliche Materialismus von Du Bois-Reymond und Lange hielt sich streng an die Cartesianische mathematische Methode und verzichtete ausdrücklich darauf, psychische Vorgänge analysieren zu können. Man kam letztlich zu den sieben Welträtseln, die man für immer als unlösbar hielt: ignoramus - ignorabimus. Die Newtonsche Mechanik der Massepunkte sollte für alle Bereiche der Physik ausreichen. Die Elektrizitätslehre war die Physik der Elektronen, die Optik die der Lichtteilchen. Die Welt funktionierte wie eine Maschine, bestehend aus Atomen, deren Bewegungen und Kräften. Dazu gehörten auch die Lebewesen. Organismen sah man als unendlich komplexe Räderwerke an, die allesamt nach den Gesetzen der Newtonschen Mechanik determiniert waren. „Da der Materialismus seine mathematische Methode für die einzig mögliche Methode hält, um zu einer befriedigenden, klaren Erkenntnis zu gelangen, so muß in seinem Weltbilde alles Geschehene zurückführbar sein auf bewegte Atome und ihre Kräfte.“[22] Was Leben war, wie es entstanden sein könnte, wie man sich Bewußtsein erklären könne, diese Fragen würde man nie naturwissenschaftlich beantworten können, dafür bedürfe es der Philosophie.

Ernst Haeckel blieb ebenfalls bei der Erklärung der Welt durch die Newtonsche Mechanik, er glaubte aber, in den Darwinschen Erklärungen der Evolution das Bindeglied zu den biologischen, ja sogar zu den psychologischen Wissenschaften gefunden zu haben. Sein Substanzbegriff umfaßte sowohl Stoff (ponderable Masse) wie Kraft (imponderabler Äther). Er postulierte die Gleichung „Welt [...]= Natur = Substanz = Kosmos = Universum = Gott“[23] und konnte auf diese Weise auch geistige Phänomene einfach durch Analogismen zur materiellen Natur erklären. „Unsere feste und klare monistische Überzeugung, daß das kosmologische Grundgesetz allgemeine Geltung für die gesamte Natur besitzt, nimmt die höchste Bedeutung in Anspruch. Denn dadurch wird [...] die prinzipielle Einheit des Kosmos und der kausale Zusammenhang aller uns erkennbaren Erscheinungen bewiesen“[24]. Man wundert sich heute ein wenig über eine solche ‘Beweisführung’, daß so etwas überhaupt ernst genommen wurde. Es steht jedoch fest, daß Haeckels Buch über Die Welträtsel in dieser Zeit eines der meist gelesenen Bücher in der Welt war. Der Monismus Haeckelscher Prägung wird in einem eigenen Kapitel weiter unten noch ausführlicher behandelt werden.

Den naturphilosophischen Ansatz Wilhelm Ostwalds, die Energetik mit ihrem zentralen Begriff der Energie, bezeichnet Classen zwar für die Chemie und die Physiologie als sehr vielversprechend, jedoch „wird die theoretische Physik ihrer leuchtenden Klarheit beraubt und die eigentlichen biologischen und psychologischen Disziplinen geraten in die Gefahr arger Verflachung“[25]. Wenn man, was in dieser Arbeit geschehen soll, Ostwalds naturphilosophische Arbeiten heute genauer studiert, stellt man fest, daß der physikalische Energiebegriff tatsächlich wenig Exaktheit und Schärfe besitzt. Jedoch legt diese Unschärfe eher den Eindruck nahe, daß es Ostwald überhaupt nicht um die theoretische Physik als solcher ging, sondern um die Ebene der physikalischen Chemie und der Thermodynamik. Ostwalds Kritik zielte hauptsächlich auf den wissenschaftlichen Materialismus, der zwar in sich leuchtende Klarheit verbreitet, aber vieles in der damaligen modernen Physik auch nicht leisten konnte. Die Vereinigung von Materie und Energie zu einer Einheit, dem Ding an sich war sicherlich der richtige Weg, und die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Masse und Energie mit der Lichtgeschwindigkeit ins Verhältnis setzt und somit direkt ineinander umrechenbar macht, gibt ihm sicherlich recht. Allerdings ging er auch hier, wie an einigen Punkten, einen Schritt zu weit, wenn er den Materiebegriff ganz aus der Naturbeschreibung beseitigen wollte.

Der andere Vorwurf, der Verflachung der Biologie und der Psychologie, trifft Ostwald jedoch nur insofern, als er auch auf biologischem und psychologischem Gebiet Aussagen machte, die mangels detaillierter Kenntnisse in diesen Wissenschaften ziemlich nur wenig Tiefe hatten. Aber wenn man versucht, seine Spekulationen für die Anwendung des thermodynamischen Energiebegriffes für die Biologie, Psychologie und Soziologie nachzuvollziehen, dann ergibt sich daraus ein durchaus stimmiges Arbeitsprogramm. Immer wieder verweist er auf die Vorläufigkeit seiner Ausführungen. Bei der Einführung der psychischen Energie drückt er sich beispielsweise sehr vorsichtig aus: er äußert die Vermutung, „daß es sich bei den geistigen Vorgängen um die Entstehung und Umwandlung einer besonderen Energieart handelt, die wir, um von ihr reden zu können, vorläufig geistige Energie nennen wollen“[26]. Daß er im Anschluß aus diesem vorläufigen Begriff konkrete Folgerungen anstellt, ist damit nicht entschuldigt.

Den dritten Ansatz einer modernen Naturphilosophie beschreibt Classen in dem Empirismus von Ernst Mach. Dieser lehnte, im Gegensatz zu Haeckel und Ostwald ein zentrales Prinzip zur Erklärung ab. In der Denktradition des Roger Bacon verweigerte Mach die Annahme irgendeiner Vorabhypothese, sondern wollte sich allein an der Erfahrung orientieren. Indem er philosophische innere Beobachtungen und biologisch-physikalische äußere Beobachtungen gleichermaßen auf Empfindungen, also körperinterne Vorgänge zurückführte, glaubte er den Subjekt-Objekt-Gegensatz beseitigt zu haben. Dieser „ist nur dadurch entstanden, daß wir einem gewissen Empfindungskomplex, den wir uns aus praktischen Gründen zu einer Einheit zusammenzufassen gewöhnt haben, dem Ich-Komplex, eine größere und besondere Bedeutung in der Gesamtheit zugestehen, als den anderen. In Wahrheit sind nach Mach alles, was wir wissen können, nur Empfindungselemente und ihre Beziehungen untereinander“[27]. Dieses hypothesenfreie Vorgehen ist die Arbeitsweise der klassischen beschreibenden und ordnenden Biologie oder der Anatomie, aber ganz bestimmt nicht die der Physik, da diese immer gewisse Grundannahmen macht, um zu ihren Erklärungen zu kommen. Ostwald hat genau diese Hypothesenfreiheit an Mach bewundert, weshalb er auch seine Vorlesungen über Naturphilosophie ihm widmete. Und obwohl er im Vorwort ausdrücklich betont, daß er sich bemüht habe, „ein Buch zu schreiben, in welchem keine Hypothese aufgestellt oder benutzt worden ist“[28], so ist doch die zentrale These dieser Arbeit, daß alles in der Welt mit dem Energiebegriff erklärbar wird, genau eine Hypothese.

Allen diesen Ansätzen einer Naturphilosophie ist gemeinsam, daß sie versuchen, die ins Schwanken geratene Mauer zwischen den Naturwissenschaften im eigentlichen Sinn auf der einen Seite und den Biowissenschaften und Geisteswissenschaften auf der anderen vollends einzureißen. Weil mit dem Fall dieser Mauer auch die glaubensgestützte Sicherheit in die christliche Weltanschauung in Gefahr war, wurde von derartigen Ansätzen eine verläßliche Antwort auf Fragen der Ethik und der Eschatologie erwartet. Die Naturphilosophie dieser Zeit gründete ihre Weltanschauung nicht auf den Glauben sondern auf Wissen. Das vermeintliche Wissen beschränkte sich allerdings auf eine Ahnung, daß die bewährten Methoden der positiven Naturwissenschaften auch auf alle Bereiche menschlicher Existenz ausdehnbar sein könnten. Die dabei auftretenden Fragen hielt man für lösbar. Wie, wußte man allerdings noch nicht. Um aber eine Ethik oder eine Eschatologie leisten zu können, falls dies überhaupt möglich ist, hätte man auf dieses noch nicht vorhandene Wissen zurückgreifen müssen, damit die Folgen des Handelns auch nur annäherungsweise abgeschätzt werden können. Somit war sowohl der eigene Anspruch wie die Erwartung der Philosophen, die Schaffung einer Ersatzreligion zu erreichen, ein illusorisches Unterfangen. Die Latte war viel zu hoch gelegt, um mehrere Versuche ihrer Überwindung zu erlauben. Sie sind alle schon im Ansatz gescheitert. Es wäre vielleicht klüger gewesen, zuerst die Fragen wissenschaftlich zu beantworten, bevor man versuchte, die staatstragende christliche Religion anzugreifen. Trotzdem sind, wie ich meine, in den Ansätzen der Naturphilosophie Ostwalds interessante Gedankenzüge enthalten. Die bis heute anhaltenden Anstrengungen gegen eine Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften zeigen, daß die Fragen, auf die sie eine Antwort zu geben versucht haben, bis heute aktuell sind.

2.3     Monismus

Wilhelm Ostwalds Versuche, alle Wissenschaften zu einer Einheit zusammenzufassen, können nicht ohne die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Bildungsbürgertum weitverbreitete Strömung des Monismus gesehen werden. Monismus steht hier für „die Gesamterfahrung der Wissenschaft [...], daß alles in der Welt mit natürlichen Dingen zugeht“[29]. Wie das zugehen sollte, darüber gab es viele verschiedene, zum Teil widersprechende Ansichten. So definierten sich die Monisten eher negativ als Anhänger einer ‘Weltanschauung’, die glaubten, ohne übernatürliche, mystische, metaphysische Erklärungen für natürliche, psychologische und kulturelle Erscheinungen auskommen zu können. Die zu diesem Zweck am weitesten entwickelten Naturwissenschaften wurden jedoch (nicht von allen Vertretern) als nicht zureichend angesehen, vielmehr sollten auch die Geisteswissenschaften, wie die Geschichte, die Soziologie oder die Ethik auf positivistischer Grundlage neu gestaltet werden. Um diesen Gedanken gegen den von christlichem Wunderglauben geprägten Dualismus von Gott und Natur durchzusetzen, konstituierten sich um die Jahrhundertwende einzelne Vereine, die sich dann, unter der geistigen Führung Ernst Haeckels 1906 zum Deutschen Monistenbund zusammenschlossen.

Der Begriff des Monismus geht auf die deutsche Aufklärung zurück. „Monistae dicuntur Philosophi, qui unum tantummodo substantiae genus admittunt“[30], schreibt Christian Wolff 1734 und bemerkt auch gleich, daß diese Ansicht nach allgemeiner Meinung verhaßt sei. Nachdem der Begriff im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhundert nur wenig in Gebrauch ist - er läßt sich bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel nicht nachweisen - taucht er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit verändertem Bedeutungsinhalt in der Terminologie verschiedener erkenntnistheoretischer Strömungen wieder auf. Er dient „um 1900 schließlich zur Parole verschiedener Reformbestrebungen, die [...] im publizistischen Kampf gegen die Orthodoxie in Theologie und Philosophie [...] ein säkulares, wissenschaftlich-weltanschauliches Reforminteresse zu Bündnissen mit weitgehend ersatzreligiösem Charakter motiviert“[31]. 1890 wurde von P. Carus und E.C. Hegeler in Chicago die Zeitschrift The Monist gegründet, in Deutschland gibt es ein solches Publikationsorgan ab 1906 unter dem Titel Blätter des Deutschen Monistenbundes[32].

Im Zentrum der deutschen monistischen Bewegung steht Ernst Haeckel. Er war der Überzeugung, daß die Religion, Philosophie und Politik seiner Zeit nicht mit der wissenschaftlichen Entwicklung standgehalten hatte. Durch die Erkenntnisse Darwins seien die grundlegenden Standpunkte der christlichen Theologie nicht mehr tragfähig, was für ihn bedeutete, daß die Institution der Kirche ausgedient hatte und somit ersetzt werden mußte. Die lebhaften Reaktionen auf sein Welträtsel-Buch von 1899 bestätigten ihn in dieser Überzeugung, so daß er am 11. Januar 1906 in Jena mit einer handvoll Gesinnungsgenossen den Deutschen Monistenbund gründete. Als erster Präsident wurde der Bremer Pastor Albert Kalthoff gewählt, also nicht ein Naturforscher, sondern ein ‘radikal frei denkender’ protestantischer Theologe. Offensichtlich sah man in der evangelischen Kirche eine bestehende organisatorische Grundlage für die Verbreitung der Einheitslehre des Monismus. Diese Einschätzung wurde enttäuscht, und Wilhelm Ostwald schrieb 1912 als Vorsitzender des Bundes in der Zeitschrift Das Monistische Jahrhundert: „die liberalen Geistlichen sind ebenso unsere Gegner wie die orthodoxen, weil sie unter allen Umständen doch in der Kirche bleiben. Und die Kirche ist und bleibt ganz notwendig und unvermeidlich die Gegnerin jeder wissenschaftlichen Weltauffassung.“[33]

Auch wenn viele seiner Mitglieder den Gründervater Ernst Haeckel als großen Führer verehrten, sollte doch der Monistenbund nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Entwicklungsbiologen zur Grundlage einer allgemeinverbindlichen, dogmatischen Weltanschauung machen, sondern es ging darum, dem Freidenkertum eine Plattform zu bieten. „Als Monismus (Einheitslehre) werden verschiedene Weltanschauungssysteme bezeichnet, deren Gemeinsames darin besteht, daß sie die Wesenseinheit alles Seins lehren. Der heutige Monismus erstrebt die Ausgestaltung einer wissenschaftlich haltbaren Welt- und Lebensanschauung und deren praktische Verwirklichung. Die alte dualistische Ansicht, daß Seele und Leib, Kraft und Stoff, wirklichen Gegensätzen entspräche, weist er zurück.“[34] Ziel war es, diese verschiedenen Systeme zusammenzufassen, und „die Bildung einer einheitlichen wissenschaftlichen Weltanschauung“[35] zu erreichen.

Innerhalb des Monistenbundes erkennen Volker Drehsen und Helmut Zander vier konkurrierende Richtungen. Eine erste Gruppe formierte sich um den genannten Pastor Albert Kalthoff, und bevorzugte „eine weltanschauliche Erneuerung auf moderner Wissenschaftsbasis im Kontext einer weltanschaulich-religiösen Massenbewegung“[36]. Sie wollte diejenigen ansprechen, „die aufgrund ihrer religionskritischen Kirchenentfremdung weltanschaulich heimatlos geworden waren“[37]. Eine zweite Gruppe forderte dagegen „das gezielte Angebot einer alternativen Ersatzreligion gegenüber den bestehenden Konfessionen“[38]. Dies war hauptsächlich Haeckels Intension, der sich später auch Ostwald anschloß. Die dritte Richtung erwartete „einen kulturpraktisch-gesellschaftsreformerischen Aufklärungsbund mit wissenschaftspolitischer, ethischer und sozialer Zielsetzung“[39]. Hier stand der SPD-Reichstagsabgeordnete Heinrich W. Peus im Mittelpunkt. Die Gesellschaftsreform sollte durch pädagogisch-aufklärerische Bildungs- und weitgehend säkular-sittliche Lebensformen vorangetrieben werden. Die vierte Gruppierung um den Münchener Johannes Unold „sah die Vision einer weltanschaulich formierten Gesellschaft mit der Rolle eines Monistenbundes als politischer Vereinigung auf sozialdarwinistisch-nationalistischer Grundlage. Und mit dem Traum der Herausbildung eines geschlossenen Nationalstaates aufgrund einer einheitlichen monistisch-dogmatischen Weltanschauung, durch deren Herrschaft die gesellschaftspolitischen Antagonismen aufgehoben sein sollten“[40].

Ernst Haeckel hatte Ostwald im Dezember 1910 gebeten, den Vorsitz im Deutschen Monistenbund zu übernehmen. Zu dieser Zeit hatte der Verein bereits annähernd 5000 Mitglieder. Ostwald kannte die Welträtsel und konnte sich mit den materialistischen Ansichten Haeckels nicht identifizieren, weswegen er zunächst zögerte die Leitung des Monistenbundes zu übernehmen. „Es sind jetzt etwa 8 Monate, daß ich Sie verehrter Meister, zum erstenmal von Angesicht gesehen habe.“ So Ostwald in einer Rede auf dem ‘Ersten Monistenkongress’. „Ich muß sagen, daß ich unter den zehntausend „.....ismen“, die in Deutschland und sonst in der Welt herumlaufen, den Monismus für eine ganz gewöhnliche Ameise gehalten habe, die gelegentlich kneift, sich aber im allgemeinen damit beschäftigt, ihre Sachen in den Bau zu tragen, und sich sonst nicht besonders von den anderen ..ismen unterscheidet.“[41] Die Tatsache jedoch, daß nicht die Ergebnisse von Haeckels Arbeit, sondern ihr Ausgangspunkt Grundlage des Bundes seien, stimmten Ostwald um. Alle Wissenschaften sollten eine Einheit bilden, war die Prämisse und Dogmatismus sollte keinen Raum bekommen. Ostwald wurde im Januar 1911 zum Präsidenten des Deutschen Monistenbundes gewählt.

Im September 1911 fand der ‘Erste Monistenkongreß’ in Hamburg statt, der in der Bevölkerung und in der Presse großes Interesse fand. Zu den Besuchern gehörten in der Mehrzahl Kaufleute, aber auch viele Ingenieure und Fabrikanten, Ärzte, Schriftsteller und Wissenschaftler, Lehrer oder Staatsbeamte[42]. Ostwald war die zentrale Figur auf diesem Kongreß. Der Erfolg des Kongresses lag weniger in konkreten Beschlüssen, als in der Erkenntnis, daß der Monismus unerwartet große Resonanz in der Bevölkerung gefunden hatte. „Dies Aufbäumen, dies hoffnungsvolle Hinblicken auf die Offenbarungen der Wissenschaft und dies flehentliche Verlangen nach sozialer Hilfeleistung mußte kommen.“[43] Die von Haeckel erhoffte Resonanz in der deutschen Professorenschaft durch das Auftreten des Nobelpreisträgers Ostwald an der Spitze der Organisation blieb jedoch aus. Der Meister, wie Ernst Haeckel genannt wurde, konnte aus gesundheitlichen Gründen selbst nicht teilnehmen. Während des Kongresses beschloß man deshalb eine ‘Pilgerreise’ mit einem Sonderzug nach Jena, um dort den „verehrten Bundesbegründer und Ehrenvorsitzenden“, den „verehrten Meister und Freund“, „unser großer Befreier“, „Excellenz Geheimrat“[44] Ernst Haeckel mit einem abendlichen Fackelzug zu seinem Haus zu ehren. Das Verhalten und die Ausdrucksweisen zeigen deutlich ersatzreligiöse Züge.

Bis zum Ausbruch des Weltkrieges entwickelte sich eine rege publizistische Tätigkeit des Deutschen Monistenbundes. Die ca. 7000 Mitglieder in den 45 Ortsgruppen veranstalteten regelmäßige Vortragsabende. Während die Zeitschrift Der Monismus 1912 noch monatlich erschien, steigerte man die Ausgabenfolge des Nachfolgeblattes Das Monistische Jahrhundert zuerst auf 14-tägig und später auf wöchentlich. Es wurden Petitionen beim Reichstag eingereicht und Wahlaufrufe zu den Reichstagswahlen verbreitet. Man beteiligte sich an den Diskussionen um die Kirchenaustrittsbewegung, sowie die Schul-, Sexual- und Bodenreform. Ostwald legte der Zeitschrift Das Monistische Jahrhundert außerdem auf eigene Initiative die Monistischen Sonntagspredigten bei, kurze Schriften über Themen, die ihn gerade beschäftigten. Außerdem wurde jählich ein Monistischer Taschenkalender aufgelegt

Der Beginn des ersten Weltkrieges führte zum Bruch innerhalb des Bundes, da neben den grundsätzlich pazifistischen Ansichten auch stark nationalistische Vorstellungen vorhanden waren. So trat Ostwald bald vom Vorsitz des Bundes zurück, weil ein Großteil der Mitglieder eine „Teilnahme an allen und jeden Kriegs- und Verteidigungshandlungen“ [45] ablehnten, während er mit einem anderen Teil der Mitglieder der Meinung war, „daß die Tatsache, daß hier nun Krieg geführt wurde, uns als Angehörige des Deutschen Volkes verpflichtete, das Mögliche für die Überwindung der Feinde zu tun[,...] nachdem wir nun von allen Seiten kriegerisch überfallen waren und unser Dasein verteidigen mußten.“[46] Der Deutsche Monistenbund bestand weiter bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933.


Literaturhinweise

[1]       Reulecke (1995), 298

[2]       Linné (1735), zit. n. Bavink (1933),, 418.

[3]       Fetcher (1984), V f.

[4]       Haeckel (1984), 503

[5]       Salewski (1994), 78

[6]       Bargmann (1991), 558

[7]       Comte (1974), 2, zit.n.Bauer (1992), 9

[8]       Chickering (1993), 213. Übers.HB.

[9]       Lamprecht (1988), 47

[11]      LL II, 104

[12]      a.a.O., 105 Hervorhebung v. Ostwald

[13]      Schleier (1988), 17

[14]      Burke (1989), 17

[15]      Comte (1974), zit. n. Burke (1989), 19

[16]      Störig (1988), 438

[17]      Holzhey (1992), 19

[18]      Liebig (1865), 16

[19]      VNP, 1

[20]      a.a.O., 3

[21]      Classen (1908), 154f.

[22]      a.a.O., 29

[23]      Haeckel (1984), 290

[24]      a.a.O., 293, Hervorhebung im Original

[25]      Classen (1908), 158

[26]      VNP, 377

[27]      Classen (1908), 96

[28]      VNP, VIII

[29]      Monisten-Kongress (1911), 22

[30]      Wolff (1734), 24f., zit. n. Hillermann, Hügli (1984) Sp.132.: ‘Monisten heißen Philosophen, die nur eine Art Substanz annehmen.’

[32]      bis 1908, dann ‘Der Monismus’ bis 1912 , von 1912-15 ‘Das Monistische Jahrhundert’ (unter der Herausgeberschaft v. W. Ostwald) und ab 1916 als ‘Mitteilungen des Deutschen Monistenbundes’, die dann ab dem 5. Jahrgang in ‘Monistische Monatshefte’ umbenannt wurden und bis 1931 herauskamen.

[33]      Ostwald, Wilhelm: Traub. In: Das Monistische Jahrhundert 1, 1912, 432.

[34]      Haeckel, Ernst (1906): Was will der Deutsche Monistenbund? In: Blätter des Deutschen Monistenbundes 1, Nr. 1, 7

[35]      a.a.O., 8

[36]      Drehsen, Zander (1996), 222

[37]      a.a.O., 223

[38]      a.a.O.

[39]      a.a.O.

[40]      a.a.O., 224

[41]      Monisten-Kongress (1911), 168

[42]      a.a.O., 155f.

[43]      a.a.O., 157

[44]      Anreden bei den Ansprachen wärend der Jena-Fahrt. a.a.O., 159 ff.

[45]      LL III, 260

[46]      a.a.O.